Ken Wilber

Naturwissenschaft und Religion: Die Versöhnung von Wissen und Weisheit

Meine subjektive Zusammenfassung

Wilber untersucht in diesem Buch das Verhältnis von Wissenschaft und Religion, die sich nach häufig anzutreffender Meinung -je nach Standpunkt aus unterschiedlichen Gründen- eigentlich nicht viel gutes zu sagen haben. Er kommt dabei zu dem Schluß, dass eine "friedliche Koexistenz" und gegenseitige Befruchtung möglich ist und  hält sogar eine Integration von allerdings von Entstellungen befreiter "echter" Wissenschaft und "echter" Religion geradezu für nötig, um die, wie er es nennt,  "Katastrophe der Moderne" zu heilen.

Diese Katastrophe betrachtet er als Folge der zu einer Dissoziation entarteten Differenzierung der Sphären des Wahren (monologische Wissenschaft der Es-heiten/Dinge), Schönen (dialogische Kunst) und Guten (Ethik/Religion). Letztere werden dabei als nicht auf erstere reduzierbar angenommen, wie das eine engstirnig unterjochende "Flachland"-Wissenschaft immer noch tut, die (inkonsequenterweise und ohne Notwendigkeit) das außen Beobachtbare verabsolutiert, sich darauf beschränkt und allem anderen die Realität verweigert.


Wilber analysiert und charakterisiert bisherige Versuche diese Katastrophe zu heilen (Zurück zur Natur/Romantik, Deutscher Idealismus, Postmoderne, New Age). Inbesondere die von ihm dabei ausgemachte prä/trans-Verwechselung, die z.B. Romantiker oder New Age-ler dazu verleitet, in prärationale Sichtweisen zu regredieren und dann zu glauben, in den damit erreichten Zuständen von Verschmelzung/ Aufhebung der Differenzierung die ersehnte Ganzwerdung/Heilung zu erreichen, erscheint mir sehr wichtig. Da die Zahnpasta aber nicht auf dem selben einfachen Weg in die Tube zurückkommt, wie sie herausgekommen ist und die "Würde der Moderne" (Aufklärung, Freiheit, Gleichheit, Bürgerrechte etc.) damit gleich mit erschlagen würde, bleiben diese Wege Illusion.


Die notwendige Integration, die "Heilung" unter Beibehaltung der Differenzierung und ihrer Würde erreicht, sieht er auf der Ebene eines durch reproduzierbare spirituelle Praxis "erweiterten", von letztlich selbst auferlegten Beschränkungen "gereinigten", transrationalen Bewusstseins,


Naturwissenschaft und Religion: Die Versöhnung von Wissen und Weisheit

welches das EINE erfahren kann und nicht im Widerspruch zu einer von unnötigen dogmatischen Beschränkungen bereinigten wissenschaftlichen Methode steht, sondern diese sinnvoll selbst -allerdings auf die "innere Welt"- anwendet. Die Wissenschaft wird dazu aufgefordert, auch innere Wahrheiten als prinzipiell zulässig anzuerkennen (was sie eigentlich für ihren eigenen Bereich auch schon tut) und die Religion soll auf Dogmen und Behauptungen verzichten und "kompetenter" Kritik zugänglich werden. 

Viele spirituelllen Traditionen, messen der Welt (der manifestierten Formen), nach dem man erst mal den Schleier von Maya und ihre raum-zeitliche Bühne mit dem Auge der Kontemplation durchschaut und als Oberfläche ohne eigentliche Substanz erkannt hat, keine Bedeutung mehr bei. Im Gegensatz dazu gesteht Wilber den Sichtweisen der beiden anderen Erkenntnismodi -symbolisiert durch das Auge des Fleisches und des Geistes- einen gleichberechtigten Platz zu. Vielleicht liegt es daran, dass er noch nicht bis zur "Quelle der Existenz" vorgestoßen ist, auf jeden Fall fühlt man sich so mitgenommen und nicht von vornherein durch Weltabgewandheit irritiert.. 

Ob der Verzicht der Religion, wie von Wilber dargestellt, so weit gehen muss, auf die metaphorische Deutung der Schriften  zu verzichten, wage ich aber zu bezweifeln, denn jeder, der sich einer "richtigen" spirituellen Praxis hingibt, wird auf seiner inneren Erfahrungsreise Phänomenen wie z.B. der großen 'Voidness' vor der Schöpfung, dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, der Erschaffung der Welt durch Differenzierung in Gegensätzen (Licht-Finsternis, männlich-weiblich etc.) begegnen. Natürlich muss hier die Praxis primär sein und eine rein intellektuelle Diskussion darüber wäre irrelevant aber für den Austausch der "Reiseberichte" unter "Reisenden" bleiben die Beschreibungen der religiösen Traditionen weiter wertvoll.

Alles in allem ein sehr anregendes Buch, dem zu wünschen ist, dass es den sinnlosen Glaubenskrieg zwischen "falscher", engstirniger Wissenschaft und "falscher", prämoderner Religion beenden hilft, um die -wie jeden Tag den Nachrichten zu entnehmen- sich zuspitzende Katastrophe der Moderne mit der latenten Gefahr eines Rückfalls in die Barbarei abzuwenden und stattdessen den verlorenen Sohn Mensch auf seinem "Weg nach Hause" zu geleiten.

Einige Kostproben...

Differenzierung - die Würde der der Moderne

Die Würde der Differenzierung wird von den antimodernen Kritikern oft völlig übersehen. Dies liegt daran, wie ich glaube, daß sie durchwegs Differenzierung mit Dissoziation verwechseln.
Alle natürlichen und gesunden Wachstumsprozesse vollziehen sich durch Differenzierung und Integration. Das anschaulichste Beispiel hierfür ist das Wachstum eines komplexen Organismus aus einem einzelligen Ei.: Die Zygote teilt sich in zwei Zellen, dann vier, acht, sechzehn und zweiunddreißig und schließlich in Abermillionen von Zellen. Während dieser außerordentlichen Differenzierung werden die verschiedenen Zellen gleichzeitig zu kohärenten Geweben und Systemen im Gesamtorganismus integriert. Dank dieses Prozesses einer Differenzierung und Integration kann sich eine einzelne Zelle zu einem mehrzelligen Organismus und einem komplexen System von wunderbarer Einheit und funktioneller Integrität entwickeln. ...
Wenn die Differenzierung ausbleibt, führt dies zu Verschmelzung, Fixierung und allgemeinem Stillstand. Das Wachstum bleibt auf einer bestimmten Stufe stehen. ...
Wenn andererseits die Diffrenzierung zu weit geht, ist das Ergebnis Dissoziation oder Zersplitterung. Die Differenzierung gerät außer Kontrolle, und die verschiedenen Teilsysteme lassen sich nicht mehr integrieren.: Sie streben auseinander, statt sich zusammenzufügen. Die Teile differenzieren sich nicht, sondern dissoziieren, und das Ergebnis ist Zersplitterung, Unterdrückung, Entfremdung. ...
Wenn man aber nun Differenzierung mit Dissoziation verwechselt, verwechselt man Wachstum mit Krankheit. Man verwechselt Würde mit Katatstrophe, Evolution mit Desaster. Aber genau dies tun so viele antimoderne Kritiker. (S. 76)

Dissoziation - die Katatstrophe der Moderne

Einige Differenzierungen der Moderne sind in der Tat zu weit gegangen, so dass hieraus Dissoziationen wurden, und diese bezeichne ich als Katatstrophe der Moderne. Kunst , Ethik, und Wissenschaft differenzierten sich nicht nur - was ein notwendiger und hilfreicher Vorgang war -, sondern sie begannen bald, in einer dramatischen Weise zu dissoziieren und auseinanderzustieben, was, wie wir soeben gesehen haben, das Kennzeichen einer Krankheit in jedem wachsenden System ist.
Dies war eine Katatstrophe, eine Krankheit, weil es hierdurch einer mächtigen monologischen Wissenschaft möglich wurde, die anderen Sphären (die ästhetisch-expressive und die religiös-ethische) zu kolonisieren und zu beherrschen, indem sie diesen überhaupt die reale Existenz bestritt. Wenn die Diffrenezierung die große Würde der Moderne war, dann war die Dissoziation die Katatstrophe . ...
Kunst, Wissenschaft und Ethik begannen getrennte Wege zu gehen, wobei der Dialog zwischen diesen Sphären nahezu verstummte, und damit war der Boden für eine dramatische, triumphale und furchterregende Invasion einer wuchernden Wissenschaft in die anderen Sphären bereitet. Innerhalb von nicht mehr als einem Jahrhundert brachte die monologische Wissenschaft in ihren verschiedenen Ausprägungen...den ernsthaften Diskurs in der westlichen Welt völlig in seine Gewalt.
Einfacher ausgedrückt: Das Ich und das Wir wurden vom Es kolonisiert. Das Gute und das Schöne wurden von einer wuchernden monologischen Wahrheit vereinnahmt, die, wie bewundernswürdig sie einerseits war, in ihrer Selbstüberschätzung überheblich und in ihren Beziehungen zu den erstgenannten zu einer Krebsgeschwulst wurde. In maßlosem Dünkel und im Rausch ihrer fulminanten Siege wurde die empirische Wissenschaft zum Szientismus, dem Glauben, daß es keine Wirklichkeit gäbe außer derjenigen, die die Wissenschaft zutage förderte. Der subjektive und innere Bereich, das Ich und das Wir, wurden zu objektiven, äußeren, empirischen Prozessen verflacht, seien sie atomistisch oder systemisch. Das Bewusstsein selbst, Geist, Herz und Seele der Menschen konnte man mit einem Mikroskop, einem Teleskop, einer Nebelkammer, einer fotografischen Platte nicht sichtbar machen, weshalb sie im besten Fall zu Epiphänomenen, im schlechtesten zu Illusionen erklärt wurden.
Alle inneren Dimensionen - der Moral, des künstlerischen Ausdrucks, der Introspektion, der Spiritualität, des kontemplativen Gewahrseins, von Sinn und Wert und Intentionalität - wurden von der monologischen Wissenschaft verworfen, weil das Auge des Fleisches oder empirische Instrumente sie nicht erfassen konnten. Kunst, Ethik, Kontemplation und Geist wurden vom wissenschaftlichen Elefanten im Porzellanladen des Bewusstseins zertrampelt. Damit war die Katastrophe der Moderne geschehen. ...
Diese Dissoziation, diese Krankheit, diese Entwicklungspathologie, dieser Zusammenbruch des Kósmos muß erkannt werden, wenn man verstehen will, was dem GEIST in der modernen Welt zugestoßen ist. Die große Kette des Sein, bis zur Moderne die tragende Säule einer jeden menschlichen Kultur, brach im Angesicht der unerbittlichen Es-heiten zusammen. Alle höheren Ebenen und Sphären, Geist und Seele, Güte und Schönheit wurden sorgfältig vom Antlitz des Kósmos getilgt, und zurück blieben Schmutz und Staub, Systeme und Sand, Materie und Masse, Objekte und Es-heiten. Ein kalter und mitleidloser Wind blies, monologisch in seiner Methode und berechnend in seinem Wahnsinn, über eine flache öde Landschaft, eine Landschaft, die jetzt als Pünktchen in einem Winkel dein und mein Antlitz enthält. 


Die Entzauberung der Welt

Was für aufgeklärte Leute wie Sie und mich einleuchtend ist, daß nämlich andere Erkenntnismodi andere gleichermaßen gültige Wirklichkeiten enthüllen, so daß Wissenschaft und Religion friedlich nebeneinander koexistieren könnten, wird von der Wissenschaft von vornherein abgelehnt, weil die ersehnte Integration Bedingungen enthält, die die Wissenschaft noch nicht einmal für real hält. Warum, so fragt die Wissenschaft, sollten wir denn den Nikolaus integrieren wollen? Warum Krankhaftes, Illusion und Irrtum? Warum holistischen Kinderkram?
Damit stoßen wir auf das wichtigste uns zentrale Problem in der Beziehung zwischen Wissenschaft und Spiritualität, nämlich den konkreten Zusammenhang zwischen inneren und äußeren Wirklichkeiten. 

Hier gelangen wir nun an einen ganz entscheidenden Wendepunkt, nämlich den Punkt, an dem die Differenzierung der Großen Drei (die die große Würde der Moderne ausmachte) zu einer Dissoziation der großen Drei (der Katatstrophe der Moderne) degenerierte. Diese Dissoziation erlaubte es einer explodierenden empirischen Wissenschaft im Gespann mit hemmungslos gewordenenen industriellen Produktzionsweisen (die beide nur ein Es-Wissen und eine Es-Technik propagierten), die übrigen Wertspähren zu unterjochen und zu kolonisieren und sie eines jeden Eigenwertes zu berauben.
Die linken oder inneren Dimensionen wurden also auf ihre rechtsseitigen Korrelate reduziert, wodurch die Große Kette des Seins und mit ihr die grundlegenden Aussagen der großen Weisheitstraditionen zum Einsturz gebracht wurden.
Links verflachte zu rechts. Dies ist in vier Worten die ganze Katastrophe der Moderne, die als die 'Entzauberung der Welt' (Weber) bezeichnet wurde, als die 'Kolonisierung der Wertsphären durch die Wissenschaft' (Habermas), die 'Morgendämmerung des wüsten Landes' (T-S. Eliot), die Geburt des 'eindimensionalen Menschen' (Marcuse), die 'Entheiligung der Welt' (Schuon), das 'entqualifizierte Universum' (Mumford).
Es ist, um ihr einen anderen Namen zu geben, die Katastrophe von Flachland.


Kant: reine Vernunft und Metaphysik schließen sich aus

Immanuel Kant war vielleicht der erste große Philosoph, der den Kampf gegen die Einebnung und Verödung durch den modernen monologischen Kollaps aufnahm. Und doch zementierte sein Werk letztlich - vor allem in den Händen weniger begabter Theoretiker - die positivistische Hegomonie, was nach Auffassung der meisten Gelehrten das genaue Gegenteil dessen war, was er beabsichtigte.
Kant zeigte zunächst in überzeugender Weise, daß die theoretische Vernunft (die reine Vernunf, die monologische Rationalität, die objektive Es-Erkenntnis) auf die Kategorien beschränkt ist, die die sinnliche Erfahrung organisieren. Mit anderen Worten, die monologische Es-Rationalität kann über die Kategorien des sensomotorischen Bereichs ... nicht hinausgelangen, weshalb die reine Vernunft metaphysische oder transzendente Wirklichkeiten wie Gott, Freiheit und die Zeitlosogkeit der Seele nicht erfassen, geschweige denn beweisen kann.
Und doch redeten die Philosophen und Theologen von Beweisen für die Existenz des Geistes, der Willensfreiheit oder die Unsterblichkiet der Seele, aber keine dieser Aussagen hatte letztlich irgendeinen echten Erkenntniswert. Es waren Versuche der Vernunft, über das Reich hinauszugelangen, in dem sie Kompetenz besaß, und das Ergebnis war keine echte Erkenntnis, sondern nur großer unbeweisbarer Unsinn. Man könnte einfach sagen, daß die wissenschaftliche Vernunft (die Es-Rationalität) Gott nicht erfassen kann, weil Gott kein empirisches Objekt ist.
Die 1781 verfaßte Kritk der reinen Vernunft legte die Unfähigkeit der monologischen Vernunft, metaphysische Wahrheiten zu erfassen, unerbittlich bloß und zog damit einen dramatischen historischen Schlußstrich unter diese Art von Metaphysik. Der Tod der traditionellen Metaphysik: Dies war die praktisch unanfechtbare Schlußfolgerung von Kants erster Kritik.
Für Kant war dies jedoch nur der Anfang. Er hatte gezeigt, daß die monologische Vernunft die Existenz des GEISTES, von Freiheit oder Unsterblichkeit nicht beweisen kann. Aber er zeigte auch, daß die Vernunft ihre Existenz auch nicht widerlegen konnte. Wissenschaft durfte also zweierlei nicht: Erstens sie durfte nicht sagen, daß es den GEIST gibt, aber sie durfte zweitens auf gar keien Fall sagen, daß es den GEIST nicht gibt. Kants Anliegen war es, die Erkenntnis (Es-Erkenntnis) zu zerstören, um Raum für den Glauben zu schaffen. Erst als die objektivistische, positivistische, monologische Vernunft aufhörte, des GEISTES habhaft werden zu wollen, konnten andere Erkenntnismodi zum Zuge kommen, um in den Kampf einzutreten.
Daher versuchte Kant in seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) zu zeigen, daß die dialogische Vernunft zumindest mit einer gewissen Überzeugungskraft ein Beweis (bzw. eine Widerlegung) des GEISTES gelingt, die die monologische Vernunft nicht zu leisten vermag.


Netter Versuch: Romantik - Zurück zur Natur

Die Romantiker gingen ihren eigenen Weg gegen diese Zersplitterung und Dissoziation, der aber, wie sich zeigen sollte, trotz bester Absichten nicht zum Ziel führen konnte. Wie wir gesehen haben, führt die Verwechslung von Differenzierung und Dissoziation - ein Fehler, der oft begangen wird - dazu, daß man die Dissoziation durch Aufhebung der Differenzierung als solche heilen will. Man geht in der Zeit zurück, und zwar nicht auf die Zeit vor der Dissoziation, was in Ordnung wäre, sondern vor die Differenzierung, und dies ist schlichte Regression. Man versucht, zu einem irgendwie gearteten früheren Zustand der Verschmelzung oder Undifferenziertheit zurückzugelangen,einem  irgendwie 'ursprünglichen', 'jungfräulichen' und 'reinen' Zustand vor dem ganzen Irrsinn der Moderne. Man möchte zurück zur Natur, zum edlen Wilden, zur Reinheit und Unschuld einer unverdorbenen Vergangenheit. So wird man zum Retro-Romantiker, der sich nach der 'Ganzheit' und 'Einheit' von ehedem zurücksehnt und die Augen vor allem Unerfreulichen verschließt, das er in den Gefilden der Prämoderne antrefen könnte. ...
Dieser außerordentliche Versuch, die Großen Drei zu integrieren und wieder ein wenig mehr Ganzheit und Einheit in einer Moderne zu schaffen, die von der Krankheit ihrer eigenen Einbildungen ausgezehrt zu werden begann, war ein edles Bemühen, dem wir unsere Anerkennung nicht versagen können. Deshalb glaube ich nach wie vor, daß wir den Romantikern zu unendlichem Dank verpflichtet sind: Sie waren die ersten, die vor über zweihundert Jahren den Finger auf die Wunde legten. Sie waren die ersten, die mit authentischem Entsetzen hierauf reagierten. Sie waren die ersten, die den Versuch unternahmen, die Fragmente wieder zusammenzufügen, die Wunden zu heilen, eine Heimat im Universum zu finden, ein bescheidener Teil des wunderbaren Stroms des Lebens zu werden, statt sich anmaßend zu seinem Herrn aufzuwerfen. ...
Leider begingen viele Romantiker in ihrem verständlichen Eifer, über die Rationalität hinaus zu einer echten spirituellen Ganzheit zu gelangen, den Fehler, wahllos alles Nichtrationale zu empfehlen, darunter auch vieles, was schlicht prärational, regressiv, egozentrisch und narzißtisch war. Nur allzu oft verwechselten sie prärationalen Antrieb mit transrationaler Einsicht, präkonventionelle Kultur mit postkonventionellem Geist, präverbalen Ausdruck mit transverbalem Gewahrsein , präkonventionelle und egozentrische Willkür mit postkonventioneller und weltzentrischer Freiheit und prädifferenzierte Verschmelzung mit transdifferenzierter Integration. ...
Mit diesem Abdriften in alles Präkonventionelle drohten sie nicht nur den Katatstrophen der Moderne, sondern auch ihren Würden den Garaus zu machen.
Dies ist der Grund, warum viele Kulturkritiker von Robert Bellah über Colin Campbell bis Jürgen Habermas die heutige Obsession mit Selbst, Gefühl, impulsiver Befriedigung, das 'hier und jetzt Sein', die Aufforderung 'verliere den Verstand und komme zu Sinnen', die Hinwendung der weißen Mittelschicht zu den 'reinen, unschuldigen und ganzen' Stammesreligionen, die Überzeugung, daß 'man seine eigene Wirklichkeit schafft', die intensive Befriedigung der Sinne, den Konsumrausch, die Selbstverherrlichung und die damit verbundene gesellschaftliche Entfremdung als direkten Ausläufer der Romantik sehen. 


Dem Ziel so nah: Der Deutsche Idealismus

Nein. ein 'Zurück zur Natur' beendet die Entfremdung des Menschen und das Unglück seines Bewußtseins nicht, sondern nur ein Vorwärtsschreiten zur dritten großen Stufe der Entwicklung und Evolution, derjenigen des nichtdualen GEISTES. Für Schelling und Hegel geht der GEIST aus sich selbst aus, um die objektive Natur hervorzubringen, erwacht im subjektiven Geist zu sich selbst und kommt im reinen nichtdualen GEIST wieder zu sich, in dem Subjekt und Objekt ein einziger reiner Akt nichtdualen Bewußtseins sind, das Natur und Geist im verwirklichten GEIST zusammenführt. ...
Der Mensch kann also die Entfremdung und das Unglück seines Bewußtseins nicht primär durch eine Rückkehr zur Natur heilen, sondern nur durch ein Fortschreiten zum nichtdualen GEIST. ...
Das Fortschreiten zur Nichtdualität war nun wahrhaftig eine überwältigende Vision, wie es sie in der Geschichte der Menschheit noch kaum je gegeben hatte: Die Evolution als Prozeß, in dem der GEIST sein eigenes zeitloses Potential in der Zeit entfaltet. Auf dem festen Fundament pragmatischer Fakten und der tatsächlichen Bewußtseinsgeschichte und zugleich einer alles durchdringenden spirituellen Wirklichkeit, die wunderbare Anmut und glanzvolle Größe miteinander verbindet, brachte diese idealistische Vision den Himmel auf die Erde, um diese zu erwecken, und die Erde zum Himmel, um diesen zu preisen.
Der Idealismus kam einer Integration der Großen Drei  sehr nahe. Er ließ Kunst, Ethik und Wissenschaft allen Raum und betrachtete sie als wichtige und geschätzte Augenblicke des ganzen GEISTprozesses. ...
Eines der entscheidenden Elemente einer jeden Integration von Wissenschaft und Religion ist die Integration der empirischen Evolution mit dem transzendenten GEIST. Die Idealisten entdeckten die wohl einzige Möglichkeit, dieser speziellen Forderung gerecht zu werden, nämlich die Deutung der Evolution als GEIST in seinem Wirken, womit sie nicht nur das Was und Wann der Evolution berücksichtigten (die von der modernen Wissenschaft akzeptierten empirischen Formen und rechtsseitigen Oberflächen), sondern auch das Warum und Wie (die linksseitigen Tiefen und die innere Intentionaliät des GEISTES in seinem Wirken).
Diese außerordentliche Erkenntnis bleibt das unsterbliche Verdienst des Idealismus. Diese großartige Schau betrachtete das ganze Universum von den Atomen über die Zellen, Organismen, Gesellschaften, Kulturen und Geister zu den Seelen als die herrliche Entfaltung eines leuchtenden Geistes, hell uund strahlend in seinem Wesen, unendlich in seiner befreienden Gnade. Denn wie Hegel sagte, ist alles, was von Ewigkeit im Himmel und auf Erden geschehen ist, das Leben Gottes und all die Taten der Zeit nichts anderes als das Ringen des GEISTES darum, sich selbst zu kennen, sich selbst zu finden, für sich zu sein und schließlich sich mit sich selbst zu vereinen; er ist sich selbst entfremdet und geteilt, doch nur um sich selbst finden und zu sich zurückkehren zu können. ...


Kritik des Idealismus

Und doch ... der Idealismus besaß zumindest einen großen Mangel ... . Dieser Mangel lag darin, daß er keinen Yoga hatte, also kein erprobtes Verfahren, um die transpersonalen und überbewußten Erkenntnisse zuverlässig reproduzieren zu können, die doch gerade den Kern der großen idealistischen Schau bildeten. Diese Erkenntnisse stellten sich entweder spontan ein (und konnten damit nicht ohne weiteres reproduziert werden), oder sie waren das Ergebnis innerer Injunktionen (die in keiner verläßlichen und beständigen Praxis verankert und damit ebenfalls nicht ohne weiteres reproduziert werden konnten).  ...
Damit traten ihre transpersonalen Erkenntnisse, so tief sie waren, zufällig ein; schlimmer noch: die Idealisten besaßen keine Möglichkeit, diese Erkenntnisse in einer zuverlässigen Weise in anderen zu reproduzieren. Entweder stolperte man über diese transpersonale und überbewußte Erfahrung oder eben nicht. Wenn ersteres der Fall war, fühlte man sich von den Idealisten unmittelbar angesprochen; andernfalls konnte man nur sagen, daß sie einfach bloß metaphysischen Unsinn von sich gaben.
Weil eine echte Möglichkeit der Reproduktion von Injunktionen (oder ein Yoga) fehlte, wurde die 'transpersonale Erkenntnis' der Idealisten als 'bloße Metaphysik' verworfen, und dies genügte nach Kant, um eine Philosophie völlig zu diskreditieren.


Extreme Postmoderne

Aber wie so oft in der Postmoderne wurde dieses Moment der Wahrheit, daß nämlich jedes tatsächliche Ereignis eine interpretative Komponente hat, bis zu einem absurden und den eigenen Untergang bereitenden Extrem getrieben: Es gäbe nur Interpretation, weshalb man auf die objektive Komponente der Wahrheit überhaupt verzichten könnte (in welchem Fall diese Theorie auch für sich selbst keinen Wahrheitsanspruch erheben kann: 'Wenn sie also richtig ist, ist sie falsch. Daher ist sie falsch.' Dies ist wie wir gesehen haben, der performative Widerspruch, der sich in allem postmodernen 'Theoretizismus' verbirgt, womit dieser Ansatz oft zu einem pseudo-kuhnianischen Manöver des 'Neuen Paradigma' wird).
Diese extreme Leugnung jeglicher Art kognitiver Wahrheit läuft auf eine Leugnung der rechten Quadranten [=äußere Welt] überhaupt hinaus und dies ist die Katastrophe der Moderne mit anderem Vorzeichen: Alle rechtsseitigen Objekte werden auf linksseitige Interpretationen reduziert und damit alle Wahrheit auf eine interpretative Laune. Und doch glaubt man, daß diese umgekehrte Katatstrophe der Moderne aus dem Irrsinn ihrer Gebrochenheit befreien könnte.
Weil die moderne Wissenschaft letztlich zwei der drei Wertsphären (Ich-Ästhetik und Wir-Ethik) umgebracht hatte, versuchte die Postmoderne einfach ihrerseits die Wissenschaft umzubringen und damit auf ihre eigene groteske Weise eine 'Integration' oder 'Gleichberechtigung' aller drei Sphären herbeizuführen, weil alle drei nun gewissermaßen 'gleich tot' waren. Diese wandelnden Leichname sollten die Dissoziation der Moderne heilen. In das postmoderne Wüste Land marschierte eine Zombie-Truppe ein, und das erstaunliche hieran ist, daß sie eine nicht unerhebliche Zahl von Akademikern davon überzeugen konnte, daß dies eine brauchbare Lösung für die Krankheiten der Moderne sein könnte.
Die (extreme) Postmoderne ist heute in der Tat die bei weitem vorherrschende Stimmung in der akademischen Welt, in der Literaturtheorie, im neuen Historizismus, weiten Teilen der politischen Theorie und (ob ihre Vertreter dies wahrhaben wollen oder nicht) praktisch allen Ansätzen des 'Neuen Paradigmas' zu einer Integration von Wissenschaft und Religion.

Versöhnung von Religion und Wissenschaft

Wenn Wissenschaft und Religion integriert werden sollen, dann müssen beide wenigstens ein bißchen nachgeben, ohne sich freilich dadurch bis zur Unkenntlichkiet zu verformen. Wir haben im Vorstehenden von der Wissenschaft nichts weiter gefordert als einen Übergang vom engen (nur sinnliche Erfahrung) zum weiten Empirismus (alle direkte Erfahrung), was sie im Hinblick auf ihre eigenen begrifflichen Operationen von der Logik bis zur Mathematik ohnehin schon tut.
Aber auch die Religion muss ein wenig nachgeben: Sie muß zulassen, daß ihre Wahrheitsbehauptungen einer direkten Verifikation - oder Falsifikation- durch Beweise aus der Erfahrung unterworfen werden. Religion muß wie die Wissenschaft die drei Stränge aller gültigen Erkenntnis annehmen und ihre Behauptungen in der unmittelbaren Erfahrung verankern. (s. 208)


Authentische Spiritualität

Authentische Spiritualität kann daher nicht mehr mythisch, bildhaft, mythologisch oder mythopoetisch sein, sondern muß auf der Grundlage falsifizierbarer Evidenz ruhen. Mit anderen Worten, ihr Kern müssen unmittelbare mythische, transzendente, meditative, kontemplative oder yogische Erfahrungen sein, die nicht im sinnlichen und nicht im geistigen, sondern im transsinnlichen, transmentalen, transpersonalen, transzendenten Bewußtsein stattfinden, Daten die nicht bloß mit dem Auge des Fleisches oder demjenigen des Geistes, sondern mit dem Auge der Kontemplation beobachtet werden.
Kurz, authentische Spiritualität muß auf unmittelbarer spiritueller Erfahrung beruhen, und diese muß streng den drei Strängen aller gültigen Erkenntnis unterworfen werden: Injunktion, Wahrnehmung und Bestätigung/Widerlegung, oder Paradigma, Daten und Falsifizierbarkeit. ...
Nur dann, wenn sich die Religion auf ihr Herz, ihre Seele und ihr Wesen besinnt (nämlich unmittelbare mystische Erfahrungen und transzendentes Bewußtsein, das sich nicht dem Auge des Fleisches enthüllt - dem Bereich der Wissenschaft - und nicht dem Auge des Geistes - dem Bereich der Philosophie -, sondern nur dem Auge der Kontemplation), kann sie der Moderne standhalten und etwas bieten, was diese ja so dringend braucht: eine echte, verifizierbare, wiederholbare Injunktion, die das Spirituelle zum Vorschein bringt.
Religion in der modernen und prämodernen Welt muß sich auf ihre wahre Stärke besinnen, nämlich die Kontemplation; andernfalls dient sie nur der Sicherung eines prämodernen, prädifferenzierten Entwicklungsstandes bei ihren Anhängern. Sie ist dann kein Werkzeug des Wachstums und der Transformation sondern eine regressive, antiliberale, reaktionäre Kraft. ...
Aus dieser Sichtweise gewinnt Religion ihre Rechtfertigung zurück, die nicht im sinnlichen, mythischen oder geistigen, sondern letztlich im kontemplativen Bereich liegt. Die große und geheime Botschaft der Erfahrungsmystiker in aller Welt lautet, daß man mit dem Auge der Kontemplation den GEIST sehen kann. Mit dem Auge der Kontemplation kann man Gott sehen. Mit dem Auge der Kontemplation entfaltet sich strahlend das große Innere.


Weite Wissenschaft

Was wir also brauchen, ist eine weite Wissenschaft aller vier Quadranten, nicht eine enge Wissenschaft nur der rechtsseitigen Quadranten. Wir brauchen eine tiefe Wissenschaft, die nicht nur die äußeren Es-heiten, sondern auch das Innere des Ich und Wir umschließt. Wir brauchen eine tiefe Wissenschaft des Ich und des Selbstausdrucks und der Ästhetik; der Moral , der Ethik, des Werts und der Bedeutung; und der Objekte, Es-heiten, Prozesse und Systeme.
Die großen Drei - Kunst, objektive Wissenschaft und Moral - können also anhand der grundlegenden Methodologie der tiefen Empirie und der tiefen Wissenschaft (der drei Stränge aller gültigen Erkenntnis) unter einem Dach zusammengefaßt werden. Ich und Wir werden endlich mit dem Es auf eine Ebene gestell, aber nicht dadurch, daß Ich und Wir auf Es-heiten reduziert werden ..., sondern durch die Einsicht, daß alle drei genau so, wie sie sind, mittels derselben allgemeinen Methodologie zugänglich sind, nämlich den drei Strängen der weiten Wissenschaft. Weite Wissenschaft (oder tiefe Wissenschaft oder tiefe Empirie) kann uns in der Tat bei unserer Suche auf jedem Gebiet geleiten, wobei es durchaus nicht nötig ist, einen Bereich zu deformieren, um ihn mit den anderen verträglich zu machen. Die drei Stränge der Wissenschaft scheiden in jedem  Quadranten (oder einfach in jedem der Großen Drei) das Gültige vom Falschen, so daß man nicht nur wahre Sätze von falschen Sätzen, sondern auch authentischen Selbstausdruck von Lüge, Schönheit von Entwertung und moralisches Streben von Täuschung und Betrug unterscheiden kann.

 

letzte Änderung: Oktober 2010